Rezensionen zu ‚Stille‘

Der Berg ruft – zur Läuterung

Tim Parks schickt in seinem Roman Stille einen eitlen Fernsehstar in die hochalpine Einsamkeit Südtirols.

Der Spiegel Special, 25.9.2006

Von Wolfgang Höbel

Er ist fett, er ist ein verkommenes Schwein, er ist am Ende – doch obwohl er all dies.-, weiß, hat sich der Fernsehjournalist Harold Cleaver immer noch sehr, sehr lieb. Deshalb dauert es ziemlich lange, bis sich Cleaver, der für seine strengen Fragen an den US-Präsidenten gerade noch allseits gerühmte Star-Interviewer unter Großbritanniens TV-Moderatoren, auf der Flucht vor seinem Ruhm und seinem stressigen Leben endlich jene Frage stellt, die seine Krise präzise benennt: Was hat es für einen Sinn, sich mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten anzulegen, wenn man mit seinem eigenen Sohn nicht reden kann?

Der in Verona lebende britische Autor Tim Parks, 52, erzählt in seinem Roman Stille von einem eitlen Dreckskerl, der sich nicht nur selber sympathisch findet: auch Parks mag ihn ganz gern, diesen Harold Cleaver, der ausgerechnet in den Be gen Südtirols einen neuen Anfang sucht. In einer Hütte Im Hochgebirge will Cleaver einsam Einkehr halten und dort die nächsten, „wenn auch nicht die letzten“, Jahre seines Lebens verbringen.

Der Anlass für den jähen Karriere-Ausstieg des Fernsehstars ist (neben allgemeiner Erschöpfung, 30 Jahren Ehekrieg sowie pathologischer Herz- und Seelenverfettung) die Veröffentlichung eines Romans. In diesem Machwerk (dem Buch im Buch) namens Im Schatten des Allmächtigen hat Cleavers ältester Sohn den berühmten Vater zum Gespött gemacht; genauer: Er hat ihn ganz realistisch als geilen Bock und treulosen Gatten, verantwortungslosen Vater und gnadenlos eitlen Selbstdarstceller geschildert. „Wenn meine Eltern mal nicht gegeneinander kämpften, dann nur, weil sie einen gemeinsamen Feind gefunden hatten“, notiert Cleavers Sohn. „Dich, du kleine Ratte“, ergänzt der Vater. Ja, es ist eine fröhliche Familien-Schlammschlacht, die Parks hier in Szene setzt, und wer frühere Romane des Briten wie zum Beispiel das Lehrer-Midlife-Krisendrama „Europa“ kennt, wird hier die Parks-typischen Obsessionen erkennen: den Schmerz über die unvermeidlichen und die vermeidbaren Verletzungen, welche Eltern ihren Kindern zufügen (und Kinder ihren Eltern), die beidseitige Hilflosigkeit und Wut, die nicht wirklich ernstgemeinten Reueanwandlungen eines Schürzenjägers, der durchaus stolz ist auf seine Missetaten.
Dass der Held Cleaver sich selbst und dem Autor, der ihn erschaffen hat, so sympathisch ist, macht „Stille“ zu einem manchmal gefährlich gemütlichen Roman. Richtiger Schrecken über die luxuriöse Elendsexistenz des Mannes will sich nicht einstellen, der da mit so viel Behagen schreckliche Fröstelanfälle in einem Dorfhotelzimmer durchleidet, sich Herzanfälle einbildet und des Nachts in einen ekligen Tierkadaverhaufen greift, als er tatsächlich eine einsame Behausung für sich ganz allein hoch droben im Gebirge gefunden hat. Manchmal ist Cleavers Selbstkasteiung der schiere Bergbauernschwank.

Trotzdem bietet Stille allzeit beste Unterhaltung und virtuos ausgeklügeltes Lesevergnügen. Wie immer bei Parks passiert nicht viel, sondern innerhalb einer Versuchsanordnung rumort es im Inneren des Helden, bis wieder eine Giftblase aufbricht und sich in seinen Bewusstseinsstrom ergießt – ein sich stets wiederholender Akt der Selbstreinigung.
„Was für ein Bild ich wohl abgebe -ein bärtiger, humpelnder, langhaariger Koloss auf Stöcken, mit einem breitkrempigen, grauen Filzhut auf den Kopf?“, sinniert er auf einer seiner
Die Natur, die Parks beschreibt, zeichnet sich durch allerhand tückische Bosheit und Menschenfeindlichkeit aus; auch die einheimischen Bewohner Südtirols werden sehr kitschfern (und realistisch) als keineswegs nur lieblicher Menschenschlag geschildert. Und weil Tim Parks ein auch an Thomas Bernhard geschulter Meister der Niedertracht ist. erweist sich die finale Weltflucht seines Helden als lächerlichste aller Illusionen: Der gute Cleaver wähnt sich, fern von Handy und E-Mail und jenseits der „Lärmgrenze“, unerreichbar in seinem Refugium und wird doch mühelos aufgespürt von seinen Lieben.

Wie es aber letztlich weitergeht mit dem sympathischen Dreckskerl Harold Cleaver, ob er sein Heil in der Rückkehr zur Zivilisation findet oder in der Fortsetzung des hochalpinen Hüttenzaubers, das überlässt Tim Parks am Ende einfach der Phantasie seiner Leser. Doch ob so oder so – es wird beim besten Willen kein Happy End draus.

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