Rezensionen zu ‚Schicksal‘

Ich verlasse meine Frau

Oder auch nicht: Tim Parks tanzt in seinem Roman Schicksal auf dem Vulkan einer Ehe

Von Elmar Krekeler

Die Welt, 3.3.2001

Im Auge des Orkans, heißt es, ist es still. Nichts rührt sich. Draußen toben die Trümmer im Kreis, drinnen herrscht Frieden. Dem muss nach der Lektüre von Tim Parks zehntem Roman Schicksal widersprochen werden. Im Auge des Orkans ist von Frieden keine Spur. Hier verschlingen sich die Trümmer und Träume, die Bilder, Gedanken,. Geschichten. Wobei man hinzufügen muss, dass es sich beim Auge dieses Orkans um das Hirn von Christopher Burton handelt. Und was sich darin verschlingt, was Tim Parks da in einem kunstvoll choreographierten Wirbelsturm über jeden Leser hereinbrechen lässt, sind die Träume und Trümmer, die Bilder, Gedanken, Geschichten aus Burtons bisherigem Leben, besser: aus Burtons bisherigem Eheleben.

Mit dessen offensichtlichem Ende eröffnet Parks seine gewaltige erzählerische Tour de force. In einem Hotel in Knightsbridge erfährt Christopher Burton – Mittfünfziger, ehemaliger Italienkorrespondent, seit 30 Jahren verheiratet mit der blaublütigen Italienerin Mara, ein leibliches, ein adoptiertes Kind -, dass sich sein (leiblicher)
Sohn in einer italienischen Anstalt mit einem Schraubenzieher die Pulsadern geöffnet hat. Nicht Trauer, kein Schuldgefühl überfällt Burton, kaum hat ihn die Stimme am Telefon informiert, sondern die Erkenntnis, dass mit diesem Selbstmord auch seine Ehe ihre Existenzberechtigung verloren hat.

Burton, der des Journalismus überdrüssig wurde, weil er über die alltägliche und stete Vervielfältigung von Details die eigentliche Geschichte, die er zu erzählen, vermitteln, analysieren hätte, immer mehr aus den Augen verlor, macht sich auf, unter den Bruchstücken nach seinem eigenen Leben zu suchen. Burton will ergründen, wie das alles begann.
Immer mehr Details häuft er auf. Immer deutlicher schält sich die eigentliche Geschichte heraus. Kunstvoll entrückt Parks die Geschichte der Zeit, rast mit ihr zwischen den Erzählzeiten hin und her. Burton, der unentschiedene Karrierist, erstellt sein Selbstporträt im Vorhof der Ehehölle, die Orte, von denen und von denen aus er erzählt, sind Orte des Übergangs. Vorzimmer, Hotels, Abflughallen, Krankenhäuser, ein Friedhof. Der Mann mit dem versteinerten Herzen und dem vor lauter unausgesprochenem Hass verstopften Gedärm bricht aus seinem selbstgebauten Gefühlsgefängnis aus und startet eine feingepixelte Bildungsreise rückwärts durch sein bisheriges Leben, einen Gedankensturm, in dem alles mit allem zusammenzuhängen scheint.

Burton, der gerade ein Monumentalwerk über den Nationalcharakter und die Vorhersagbarkeit des menschlichen Verhaltens entwirft, lernt. Wie man sich verlieren kann, indem man sich zu kennen glaubt. Dass man für Monomanie irgendwann den Preis bezahlen muss. Dass ein Mensch, der sich der Beschaffenheit seines eigenen Charakters nicht sicher ist, kaum geeignet ist, das Bild eines Nationalcharakters zu entwerfen. Dass europäisches Zusammenleben möglich ist, auch wenn man – wie Burton und seine Frau, die sich dem Englischen verweigert auf unterschiedlichen Ebenen denkt, unterschiedliche Sprachen spricht. Dass menschliches Verhalten nicht vorhersagbar ist.
Dass sich selbst belügen zur Natur des Menschen gehört. Dass Korrespondenten und Liebende sich doch sehr ähneln, irgendwann an den Punkt kommen, an dem sie sich entscheiden müssen: Weg gehen oder in die Tiefe. Dass, wie fast immer, das Übel in der Mitte liegt, im Verharren in jenem Fegefeuer der Gefühle, das sich Alltag nennt. Dass Schicksal von Menschen gemacht wird, von ihnen erfunden wurde, um sie genauso vom Nichts, in dem sie eigentlich existieren, abzulenken.
Und schließlich: Dass Liebe alles vermag, alles aushält. Mara und Chris haben sich gesagt, sich angetan, was man sich nur sagen und antun kann. Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, Himmel und Hölle erlebt. Sie verstehen nicht, sie verzeihen alles. Der Sturm ist vorbei. Das Leben beginnt neu. Und die Liebe.
So lässt sich vermutlich auch eine Rosamunde- Pilcher-Laura-Ashley-Schwarte zusammenfassen. Parks‘ Reflektionsniveau und seine hochartifizielle Komposition divergierender Elemente, Motive und Erzählstränge jedoch verhindert das Umkippen von „Schicksal“ in den Kitsch, seine beißende Ironie, sein Herz und sein Wissen um die Welt und die möglichen Strategien auf dem Großkampfplatz Ehe verhindert das Umkippen in leblose Kunstverrichtung. Welch ein Wunder ist die Liebe. Welch ein Wunder ist dieses Buch. Man möchte für beide ein Reservat bauen.

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