Rezensionen zu ‚Alle lieben Raymond‘

Straflager Familie

Der Brite Tim Parks schildert in „Allelieben Raymond“ die Last, mit einem geistig Verwirrten zu leben – und erzählt vom schnöden Los der Mittdreißiger.

DER SPIEGEL, 16.6.1997

Es ist schon länger Brauch in der Kunst, den Narren zum Heiligen zu erklären und das Gute im Irren zu sehen. Irgendwie soll er ein besserer Mensch sein, hemmungslos, direkt, nicht von dieser Welt. Sankt Hölderlinin seinem Tübinger Turm war so einer, der selige Robert Walser in Herisau oder auch Antonin Artaud in seinem Theater der Grausamkeit. Irre ist erst richtig menschlich.
Endgültig zum familienfreundlichen Kitsch kristallisiert ist der nette Bekloppte von nebenan als Dustin Hoffman in Rain Man. Aus dem Kino kam man damals mit der deprimierenden Botschaft: Eigentlich ist jeder blöd, der nicht so verrückt sein kann wie der autistische Hoffman.

Wie es wirklich ist, wenn der Wahnsinn explodiert und das Couch-Eck im Wohnzimmer sprengt, davon erzählt der Engländer Tim Parks, 42, in seinem Roman Alle lieben Raymond. (Im Original heißt das Werk harmlos Family Planning.)
Wer bis dahin glaubte, die Ehe sei die größte auszumalende Folter in der westlichen Welt, der lernt jedenfalls aus diesem hochkomischen und zugleich aufrichtigen Buch, daß die Liebes-Doppelzelle mühelos vom Straflager Familie überboten wird.
Die anderen Familienmitglieder wissen alle ziemlich genau, warm es angefangen hat mit Raymond: Monatelang hatten sie nichts mehr von ihm gehört. Er studierte in Yale und baute angeblich seine polyglotte Genialität noch weiter aus, aber dann kam ein Brief vom Rektor, die Familie solle sich mal um Raymond Baldwin kümmern. Der verlorene Sohn saß ungewaschen in seinem Zimmer in New Haven, die Wände, das Bett, die Vorhänge, alles überzogen von einer braunen, klebrigen Substanz, sein Körper übersät von Schnittwunden, selber beigebracht mit der Rasierklinge. Ohne Vorwarnung war der geliebte Sohn und Bruder zum Monster geworden.
Seine Eltern planen gerade, nach jahrzehntelangem Übersee-Aufenthalt, die Rückkehr nach England, wo sie ein einigermaßen auskömmliches Leben als Pensionäre führen wollen – aber Raymond wird sie alle auffressen: seine Schwester Lorna. deren amerikanischer Ehemann über Dekonstruktion und Metaphorik dissertiert und hauptberuflich an seiner Prostata laboriert; seinen Bruder Graham, der gern Broker und reich wäre, aber nur geizig ist; seinen anderen Bruder Garry, der in die Politik gehen will und sich fürs erste mit Herumschnorren und Herumschlafen begnügt.

Nach Jahrzehnten bricht die Ehe der Eltern auseinander, der Vater sucht das Weite, die Geschwister schieben sich die Verantwortung für Raymond, das ehemalige Genie, gegenseitig zu. Was soll man auch mit ihm anfangen? Mit Raymond, den sie alle noch als liebenswürdiges Kind in Erinnerung haben, der plötzlich prügelt; der sich mit der Nagelschere beschneidet; der die Hauskatze schlachtet und stückweise serviert; und der schließlich sogar seine eigene Mutter vergewaltigt.

In der Literatur fehlt es an Schilderungen aus dem langweiligsten Leben, dem des „Thirtysomething“ (wie eine legendäre US-Femsehserie heißt). Alles scheint sich verabredet zu haben, daß nach der Pubertät und dem Scheitern der ersten Liebe, nach Rechtschreibschwäche und verfehltem Universitätsabschluß nichts Interessantes mehr passiert. Die Majestät des Ichs, der pubertäre Größenwahn, löst sich auf im allgemeinen Durcheinander, in Ehe, Familie, Kindern und einer milden Depression-wenn nicht ein wenig vorstädtischer Ehebruch á la Updike dazukommt.

Dabei sind Studienabbrecher, Quereinsteiger, Frührentner, Drogensüchtige reiches Material: die Berufsanfänger, die schon wieder genug haben vom Job, die Managerin im Powerdress. die beim fünften Glas Wein zerfließt, weil sie doch lieber Kinder hätte, die gesellschaftlich geduldeten Irren, die zwischen den Parteien herumeiern.
Tim Parks hat den Roman über diese „lost generation“ geschrieben und zugleich ein für allemal mit der Familie abgerechnet.
Raymond fahndet per Partnervermittlung nach einer moslemischen Braut, denn es zieht ihn in den Heiligen Krieg. Dann schreibt er an die Universität, an der sein Bruder unterrichtet und denunziert ihn: Er habe sich mit einer Studentin eingelassen, die auf gute Noten hoffte. Was soll man anfangen mit diesem Pflegefall?

Aber Raymond ist nicht bloß durchgeknallt sondern so normal wie die reine Verzweiflung, der ganz normale Familienroman eben – in einem weiteren Brief, diesmal an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, beklagt Raymond den Verlust der Kindheit: „Die Mitglieder meiner Familie wurden sukzessive durch andere Lebewesen substituiert. Inzwischen ist der Punkt erreicht, an dem keiner von ihnen mehr dieselbe Person wie früher ist.“
Und vielleicht hat er sogar recht: Nicht er ist wahnsinnig, sondern die anderen, seine geliebten Geschwister, sind zu Aliens mutiert, normale Menschen geworden, die sich mit Kinderkriegen, bescheidenen Gehaltsaufbesserungen und Bausparverträgen zufriedengeben. Es ist zum Verrücktwerden

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